Ambitionierte neue Grenzwerte für Cholesterin – je niedriger desto besser oder alles nur Pharmalobbyismus?

Zwei große medizinische Fachgesellschaften, die European Society of Cardiology und die European Athersosclerosis Society, haben vor einem halben Jahr die Behandlungsempfehlungen für Cholesterin und Blutfette aktualisiert.

Die veröffentlichte Leitlinie zur Definition der Kriterien für eine medikamentöse Cholesterinsenkung hat die bis dahin geltenden Zielwerte nach unten korrigiert.

Eine Leitlinie fasst das aktuelle medizinische Wissen zusammen. International anerkannte Experten beurteilen insbesondere den Nutzen von Behandlungen und wägen diesen mit möglichen Schäden ab. Auch die wissenschaftliche Qualität der neuen Studienergebnisse wird dabei intensiv erörtert und bewertet.

Wer genau soll wie intensiv behandelt werden – und wer nicht? Die Leitlinie gibt konkrete Empfehlungen zum Vorgehen. Nicht wie ein Gesetz, aber eben als Expertenmeinung mit genauer Darlegung der Hintergründe der Empfehlung.

Aufgrund zahlreicher neuerer – die letzte Leitlinie stammt von 2016 – wissenschaftlicher Daten, die einen größeren Nutzen für die Absenkung des kardiovaskulären Risikos mit einer intensiveren medikamentösen Absenkung von LDL-Cholesterin zeigten, wurden für bestimmte Menschen niedrigere Zielwerte für LDL-Cholesterin empfohlen.

Außerdem wird die Bedeutung von Lipoprotein (a) als kardiovaskulärer Risikofaktor betont.

Weiter wird die einfach und schonend durchzuführende Ultraschalluntersuchung der Hals- und Beinarterien als wichtige Untersuchung zur Beurteilung des individuellen Herzinfarktrisikos empfohlen.

Der große Nutzen einer Absenkung des LDL- Cholesterins mit Statinen — Halbierung des kardiovaskulären Risikos (tödlicher und nicht-tödlicher Myokardinfarkt, Schlaganfall, koronare Revaskularisation) unabhängig von der Höhe des Ausgangsrisikos bzw. ca. 25%ige Absenkung pro 40 mg/dl Reduktion des LDLCholesterins— ist schon seit vielen Jahren bekannt und wird von Fachleuten nicht infrage gestellt.

Es besteht Einigkeit, dass wenige (wenn überhaupt!) chronische Krankheiten einer derart intensiven Untersuchung unterzogen wurden; selten wurden die Ursache und der Ansatz zur Prävention so überzeugend dokumentiert.

Idealerweise sollte eine LDL-senkende Therapie eingeleitet werden, bevor sich atherosklerotische Plaques entwickeln oder zumindest bevor sie ihre bedrohlichsten Merkmale entwickeln.

Genau hier verläuft für Experten die Grenze, die eben immer wieder neu justiert wird: wer profitiert „unterm Strich“ – Nettonutzen? Wie viele Menschen müssen für wie lange Zeit behandelt werden, um ein Ereignis (tödlicher und nicht-tödlicher Myokardinfarkt, Schlaganfall, koronare Revaskularisation) zu verhindern? Was kostet das eigentlich? Wie sicher ist das?

Insbesondere drei neuere Untersuchungen weisen für bestimmte Menschen einen noch größeren Nutzen (Verhinderung von Herzinfarkt oder neuerlichem Herzinfarkt) durch eine noch stärkere medikamentöse Absenkung des LDL-Cholesterin nach:

 

Aufgrund des bereits bekannten und der neuen Ergebnisse dieser großen Untersuchungen empfehlen die Autoren:

  • für Menschen mit einem besonders hohen kardiovaskulären Risiko, den LDL-Cholesterinwert auf unter 55 mg/dl abzusenken
  • für Menschen mit einem extremen Risiko auf unter 40 mg/dl
  • für Menschen mit einem hohen Risiko auf unter 70 mg/dl

Ein extremes Risiko haben beispielsweise Menschen, die trotz maximaler Statindosis in 2 Jahren mehr als 2 Herzinfarkte haben. Ein sehr hohes / besonders hohes Risiko liegt unter anderem bei bekannten Plaques in den Herzkranzgefäßen und/oder sonographischem Nachweis von Atherosklerose / Plaques in der Halsschlagader vor.

 

Die neuen Empfehlungen werden von Experten kontrovers kommentiert.

So schreibt die renommierte DGFF (Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen(Lipid-Liga) e.V.):

„….wie wichtig es ist, die LDL-C-Konzentration bei kardiovaskulären Risiken oder Ereignissen deutlich abzusenken. Die lipidsenkende Therapie soll möglichst früh und konsequent eingesetzt werden….“

Der ebenfalls sehr renommierte Arzneimittelbrief kommt zu einer anderen Einschätzung:

„…Die Zielvorgabe „as low as possible“ scheint aber nicht nur für das LDL-Cholesterin, sondern auch für das Evidenzniveau der Leitlinie zu gelten, denn diese ist in vielen formalen Punkten kritikwürdig, sodass sie nach unserer Einschätzung allenfalls als interessengeleitetes Positionspapier einer industrienahen Fachgesellschaft bezeichnet werden kann….“

Kritikpunkt ist vor allem die „handwerklich“ fehlerhafte Durchführung der Leitlinie: nicht den Vorschriften für die Erstellung einer solchen Leitlinie entsprechende Auswahl und Besetzung mit Experten, kein transparenter Bericht der Erstellung der Leitlinie und fehlende Beweisführung der Nutzen-Risiko-Relation.

Hierzu ist anzumerken, dass die neu empfohlenen niedrigen Werte oft nur unter der Behandlung mit neuen, sehr teuren Medikamenten ( PCSK9-Hemmer ) zu erreichen sind.

 

Für die Kardiologen der Praxis Westend gilt:

Für viele Menschen mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko stellt die medikamentöse Absenkung des LDL-Cholesterins eine etablierte und sichere Behandlung dar. Hier haben die exzellent untersuchten Statine eine herausragende Bedeutung. Sie sind sehr sicher in der Anwendung und der Nutzen ist bei richtiger Indikation sehr groß. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen klar, dass für jeden Menschen das individuelle kardiovaskuläre Risiko (Infarktrisiko Rechner) bestimmt werden muss und entsprechend dem Ergebnis eine Behandlungsempfehlung zu erfolgen hat. Wie von uns schon seit vielen Jahren praktiziert, hat in der Vorsorge die ultraschallbasierte Gefäßuntersuchung eine große Bedeutung.

Das Potential der Statine ist bei vielen Menschen nicht ausreichend genutzt. Die Ursachen hierfür dürften vor allem durch Unkenntnis über den Nutzen und die Risiken der Einnahme von Statinen zu begründen sein.

Cholesterinsenker und Statine: Atorvastatin, Pravastatin, Rosuvastatin, Simvastatin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die bekannten Daten unterstützen die Hypothese, das für viele Menschen ein früherer Einsatz wünschenswert wäre, ebenso wie die Hypothese, das der Nutzen der Behandlung unter niedrigeren Werten größer ist – bei guter Sicherheit.

Die Kritik des Arzneimittelbriefs an der neuen Leitlinie ist aber grundsätzlich berechtigt. Eine, den Anforderungen einer entsprechenden Leitlinie gerecht werdende Publikation ist wünschenswert. Auf Basis einer individuellen Risikobeurteilung kann der Einsatz von PCSK9 Hemmern indiziert sein und dann einen zusätzlichen Nutzen erreichen. (fachkreise.amgen.de/downloads/f/1/456/repatha-140-mg-fertigpen-420-mg-patrone_201911.pdf)

 

Illustration

roger ashford / Shutterstock

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